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Seit vielen Jahren schafft Hermann-Josef Mispelbaum ein kontinuierliches,
stringentes und intensives bildnerisches Werk, das sich zwischen den Polen von
Figuration und Abstraktion bewegt. Seit langem hat er sich gegen die Farbe
entschieden und beschränkt sich in Zeichnungen und Gemälden auf die Verwendung
der Antipoden Schwarz und Weiß, die Farben des Gegensatzes, des Konfliktes, des
großen Unterschieds und der großen Wirkung.
In seinen Gemälden auf Leinwand ("Steingarten", "Steintor", "Welt-Welten") legt
Mispelbaum über schwarzen Grund dünne weiße Latexlasuren, die den Bildraum zu
Plastizität verdichten, auf die weiße Farbschicht zeichnet er mit Kohle. Die
Überlagerung vieler Schichten erzeugt feine Valeurs des Grauspektrums und immer
wieder auch bläuliche bzw. blaugraue Töne, die sich aus der Reaktion der
Farbsubstanzen entwickeln. In den Materialbildern ("Steinkorsett", "Erdgarten",
"Zapfen") werden Reliefs und Körper aus eingearbeiteter Pappe, Pappmaché und
Gips gewonnen, auch Objekte eingefügt. Seit 1994 kommen Packpapierschnitte
hinzu, die mit einem braunen, erdigen Farbton einen neuen Akzent setzten. In
Gemälden, Materialbildern, großformatigen Arbeiten auf Papier und
Packpapierschnitten treibt Mispelbaum ein hintergründiges Spiel um Raum und
Fläche, perspektivische Illusion und faktische Plastizität, Verharren und
Schweben, Schattenwurf, Bildtiefe, Symmetrie und Gleichgewicht. Vor- und
zurückspringende Partien, gewährte und verstellte Ausblicke definieren den
Bildraum als mehrdeutig, versetzen Bildpartien in Bewegung, fordern das Auge
immer wieder zu neuerlicher Inspektion und lassen gerade gewonnene Erkenntnisse
sich verflüchtigen.
Obwohl eigentlich von der Malerei kommend, hat Mispelbaum kontinuierlich
gezeichnet. Dabei wird die Handzeichnung immer bedeutender und entwickelt sich
ab der Mitte der achtziger Jahre zum autonomen und dominierenden Medium seiner
Kunst. Die Faszination der Zeichnung liegt für den Künstler in der Schnelligkeit
und Spontaneität, in der Möglichkeit, über dieses Medium ständig Bilder in die
Welt fließen zu lassen und unmittelbar reagieren zu können. Zentrales
Gestaltungselement der Handzeichnungen ist die Linie, die er mit Bleistift auf
getöntes Skizzenpapier setzt, bevorzugt im Format 40 x 30 cm. Dabei ist die
aller erste Linie die wichtigste, sie "muss stimmen", sagt Mispelbaum, muss so
stark und prägend sein, dass sie allein genügen würde, um die bis dahin
undefinierte Fläche des Blattes zu gestalten. Mit dem Radiergummi werden
Korrekturen vorgenommen, Linien verworfen, entfernt und neue Liniengefüge
erzeugt. Die Pentimenti sind ein wesentliches bildnerisches Gestaltungselement
der Zeichnungen, stehen gelassene wie ausradierte Linien bleiben sichtbar, als
blasse Spuren oder helle Lineaturen mit einem anderen Farbwert, wie ein
Schatten, ein Echo, das die Komposition verdichtet und eine Binnenstruktur
einfügt. Mispelbaums Zeichnungen legen ihren Entstehungsprozess offen, sie
lassen den aufmerksamen Betrachter die handschriftliche Eroberung der leeren
Fläche in ihrer zeitlichen Abfolge mit allen Korrekturen und Änderungen
nachvollziehen und erinnern zuweilen an palimpsestartige Schriftstücke. Zur
Betonung wie Erweiterung der Linie nutzt Mispelbaum seit dem Ende der achtziger
Jahre die von den Kubisten entwickelte Technik der Papier Collés. 1912 hatten
Picasso und Braque Tapetenfragmente und gepresstes Wachstuch in ihre Tafelbilder
eingefügt, um so den konventionellen Entstehungsprozess zu durchbrechen, später
entwickelte sich daraus die Collage. Mispelbaum setzt die Technik verhalten ein,
behutsam, akzentuiert. Mit dem Messer schneidet er Linien nach, einzelne
Details, setzt eine Form auf, klebt eine Linie, klebt einen Rahmen, gewinnt mit
dem papier co11é eine verlorengegangene Linie zurück, es entsteht eine feine
Reliefstruktur, es entstehen räumliche Effekte. Das Zusammenspiel von
gezeichneter Linie, Pentimenti, geklebten Linien und Flächen schafft vieldeutige
räumliche Bezüge. Papier liegt über Papier, liegt auf Zeichnung, geklebte Linie
liegt auf gezeichneter, gezeichnete Linien führen geklebte fort, Raum wird zur
Fläche, Fläche öffnet sich zum Raum. Durch diese Überlagerungen entstehen
Assoziationen sedimentierter, organisch gewachsener Schichten. Ein auffälliges
Merkmal vieler Zeichnungen ist ihre gezeichnete Rahmung. Diese Begrenzung lässt
sich im Sinne des tradierten Fenstermotivs deuten als Verbindung von Innen und
Außen, als geoffenbarte Erkenntnismöglichkeit, lässt sich lesen als Verweis auf
den Spiegel, den Ahnen aller Bildmaschinen, der uns unser eigenes Ich und seine
Befindlichkeit schauen lässt oder auch als Hinweis verstehen auf die Bühne, die
Bildbühne, die Bühne des Teatrum mundi, dessen Protagonisten wir selbst sind.
Mensch, Natur und Welt sind die Sujets des Künstlers, die Grundakkorde seines
Werks, die immer wieder anklingen, um die seine Kunst stetig kreist, motivisch
oft verschlüsselt oder vielfach gebrochen formuliert. Aus geometrischen und
organischen Formen erfindet und entwickelt er in seinen Zeichnungen teils
dichte, teils sehr reduzierte Bildgefüge, die in einer subjektiven Sprache und
einem eigenständigen Vokabular zeichenhafter Kürzel und figurativer
Reminiszenzen existenzielle menschliche Erfahrungen artikulieren. Er
transformiert Erlebtes, Erlittenes, Gefühltes, Geahntes und Gedachtes in einen
eigenen Zeichenkosmos und verleiht ihm eine spezifische Gestalt. Mispelbaum
fokussiert Sachverhalte, die von Bewegung und Veränderung gekennzeichnet sind,
die Konsequenzen zeitigen. Oder er formuliert Situationen so zugespitzt und auf
den Punkt gebracht, dass man vor dem Blatt fast dem Atem anhält, um die subtile
Balance nicht durch unbedachtes Ausatmen zu stören. Seine besondere
Aufmerksamkeit gilt den Gefährdungen und Abgründen der menschlichen Existenz,
labilen Gleichgewichten, dem Aus-dem-Lot-Geraten, Verletzungen, es geht um
Unwägbarkeiten, Risiken, um Gratwanderungen; vieles speist sich dabei aus der
eigenen Biografie. In dieser Thematik erweist Mispelbaum Francis Bacon Reverenz,
dessen Werk ihn vor allem zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn entscheidend
beeinflusste, der Ängste, Bedrohungen und Deformationen artikuliert, sich an der
Welt und dem In-der-Welt-Sein schmerzvoll reibt.
Die häufig poetischen und metaphorischen Werktitel wie "Krankes Wasser",
"Erdeinbruch", "Erdrotation", "Die Welt stützen", "Garten der Intoleranz",
"Erdwächter", "Weltenwanderung", "Muskelspiele", "Natureinbruch",
"Steingarten-Balance" geben nur eine aller erste Richtung vor im Denken und
Deuten. Die Bildräume sind verschachtelt, vieldeutig, subtil und sperrig
zugleich; sie widersetzen sich voreiligen Sinnzuweisungen und erweisen sich als
widerständig gegenüber dem Wunsch nach vollständiger Exegese, manche Formen
bleiben enigmatisch und unauflösbar, was nicht zuletzt ihre Faszination
ausmacht.
Hermann-Josef Mispelbaum ist ein skeptischer und zuweilen melancholischer
Romancier der Gegenwart, der unablässig und obsessiv Bilder in die Welt fließen
lässt, in denen er Stellung bezieht zum Leben auf diesem Planeten und seine
Erzählung "Erdporträt" in vielen Kapiteln fortschreibt.
Pia vom Dorp (Kunsthistorikerin Aachen)
Text: Vom Künstler geliefert
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