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Foto: Karl-HeinzLaufs „Pesch Haus Nummer 13“
Der Akkordeonist wird vermisst. In wenigen Minuten soll an diesem trüben Herbsttag des Jahres 2013 ein Konzert im Immerather Dom beginnen. Nur unsere mitgetragenen Handys machen Kontakt mit dem noch Vermissten möglich. Immer wieder, so beschreibt der ein wenig verzweifelte und um Erkelenz herum irrende Musiker, gäbe er die Adresse der Kirche Immerath in sein eigentlich kompetentes Navigationssystem ein. Immer wieder spucke das System jedoch aus: „Kein Ort!“ Das trendige Navi, ganz Protagonist der eiligen Neuzeit, hat dem Bagger bereits vorgegriffen: Immerath ist gelöscht, verschwunden, nicht mehr existent: der Akkordeonist wird wiederholt nach Neu-Immerath geleitet.
An diesem Ort, der nun nicht nur laut Navigationssystem keiner mehr sein soll, sitzen wir noch ganz real und lebendig, von zerfallenen, verlassenen und vernagelten Straßenzügen in diesem geisterhaft anmutenden Dorf umgeben: Musiker, Sänger, Solisten, Pianisten, unruhig gespannt auf ihren Stühlen vor der Premiere zum Projekt „Dennoch...Heimat!“ Nun zahlreich in die Kirche einströmende Besucher hauchen dem totgesagten Dorf für einen Moment Leben ein. Absurdität der Zeitgeschichte: Unsere Premiere zelebriert das Ende für die Immerather. Der Abschied von ihrem „Dom“, von ihren Häusern, von langjährigen Nachbarschaften (oftmals seit Generationen bestehend), von ihren Gemeinschaften. Eine Konfrontation mit Verlusten, für die es wenig passende Worte zu geben scheint, ebenso mit dem Finden und Suchen und der Hoffnung auf einen Neubeginn. Wir, die wir dieses Projekt angegangen sind, stehen vor einer großen künstlerischen Herausforderung: Den mit dieser Thematik verbundenen vielschichtigen Gefühle wollen wir einen Raum anbieten, in Klängen und Worten spiegeln, zugleich jedoch Halt geben, benennen, ohne in den Abgrund zu reißen, ohne zu beschönigen, verharmlosen oder relativieren, Verbindung schaffen im Verlorenen, gar Veränderung initiieren? „Ich bin der festen Überzeugung, dass jede Form von guter Kunst in geistiger Hinsicht in dem Augenblick zu wirken beginnt, sobald sie im Künstler zu Wort gekommen ist.“ So schreibt mir im Feedback auf unsere CD der Künstler Professor Boeminghaus – und tatsächlich erhalten wir im Verlaufe unserer Arbeit die Nachricht, dass
Holzweiler vom Abbaggern verschont werden soll. Das sah bei Projektbeginn ganz anders aus... Im Sommer 2012 hatte mich Pfarrer Franz-Josef Semrau angesprochen: er hatte unser Album „Dennoch...Liebe“ gehört und insbesondere der Titel „Billa , lass uns tanzen“ hatte ihn inspiriert, mit unserer Musik direkt zu den Menschen im Tagebaugebiet zu gehen. Er, Maria Bubenitschek, Beate Theißen und ich begannen alsbald mit Projektplanungen. Bei den Menschen zu sein, die durch die Umsiedlung im Tagebau ihre Heimat verlieren, zugleich einen künstlerischen Raum anzubieten, in dem Unsagbares Raum bekäme: das kristallisierte sich schnell als unser gemeinsames Projektziel heraus. Gerade jetzt, da die politischen Kämpfe verloren schienen, wollten wir über jede ideologische, politische, konfessionelle und künstlerische Prägung hinaus signalisieren: „Ihr seid nicht allein! Wir sind da!“ Allzu oft wird in dieser Thematik polarisierend diskutiert, zuletzt viel verzweifelt geschwiegen. Ein synästhetischer Zusammenklang der Künste, präsentiert als Trilogie durch das Jahr vor der Kirchenaussegnung in Immerath, erschien uns für die Thematik ebenso angemessen wie in Anlehnung an den Albumtitel „Dennoch...Liebe!“ der Projekttitel „Dennoch...Heimat!“.
Unser Projekt mündet 2014 mit Unterstützung des Heimatvereins der Erkelenzer Lande in einer CD. Wird sie einst ein historisch-regionales Zeitdokument vom Tagebaurand sein? In jeweils eigener Weise und individuellem Stil haben sie sich der Thematik genähert: die unmittelbar betroffene Songwriterin Melissa McCauley-Irle, vor Jahren aus dem fernen Amerika übersiedelt, der Heimatdichter Theo Schläger wie die Chansonschreibende Verfasserin von Kindeszeiten am Tagebaurand beheimatet, der Akkordeonist Hejoe Schenkelberg und die Pianistin Beate Theißen aus dem näheren, jedoch nicht betroffenen Umland... mit den Holweiler GospelVoices wurde ein „Chor der Betroffenen“ gefunden, der nun, neuestem Stand zufolge, doch von der Umsiedlung verschont zu bleiben scheint – so die bereits erwähnte frohe Nachricht während der Projektarbeit. Gern haben wir Projektbeteiligten das Abschlusskonzert zum Symposium „Heimat“ der Universität Düsseldorf (Ltg. Professor Prall-Tuchel) gestaltet. Die bewegten Resonanzen des Publikums, bis hin zum Mittanzen und Singen zur Ballade „Billa, lass uns tanzen“ dokumentierten den gewünschten interaktiven Charakter unseres Projektes auf besondere Weise.
Unserer gemeinsamen Arbeit wohnte von Anfang an ein besonderer Geist inne: dieser Geist trug, verband und führte weiter – ich freue mich, wenn dieser Geist durch die inzwischen vorliegende CD weiter leben darf und wir mehr Menschen, auch über die Erkelenzer Lande hinaus, für die Thematik sensibilisieren.
Jäh unterbrochen wurde unser beseeltes Tun durch Franz-Josef Semraus plötzlichern Tod-. Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit entschlossen wir uns, das Projekt in verkleinerter Form dennoch durchzuführen. Insbesondere Elke Schnyder für die Pfarre St. Maria und Elisabeth war maßgeblich, um das Projekt organisatorisch doch möglich zu machen. Die beiden Konzerte im „Immerather Dom“ in jeweils prall gefüllten Kirchen mit tief bewegenden Resonanzen, werden uns unvergessen bleiben.
Nachtrag: der Akkordeonist wurde von freundlichen Menschen aus dem Nachbarort Holzweiler sicher zum „Nicht-Ort“ geleitet.
Im Dezember 2014, Duo EigenARTs, Waltraut Barnowski-Geiser
7 Titel aus eigener Feder...die CD „Dennoch...Heimat! Musik vom Tagebaurand
Mitwirkende
Melissa McCauley-Irle, Sopran
Hejoe Schenkelberg, Akkordeon
Theo&Micki Schläger, Gesang
GospelVoices Holzweiler , Ltg. Klaus Hurtz
Duo EigenARTs mit Beate Theißen, Klavier und Waltraut Barnowski-Geiser, Gesang
Aufgenommen im Tonstudio mjoy, Hg. Heimatverein der Erkelenzer Lande
Text: Waltraut Barnowski-Geiser
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