Er wusste immer, dass er einmal der reichste Oberbrucher wird. Und dass ihm
irgendwann mal die richtige Idee kommen würde, war ihm auch klar. Nur dass es so
einfach sein würde, hätte er nie gedacht.
Er wartete auf Klaus, der seinen Besuch für halb neun angekündigt hatte. Klaus
trank wenig Alkohol, dafür fuhr er umso lieber Motorrad, da brachte ihn keiner
von ab. Und was Klaus am wenigsten leiden konnte, war ein Sozius hinter ihm.
Selbst seine eigene Freundin, wenn er denn mal wieder eine hatte, mochte er
nicht hinter sich wissen. was er aber überhaupt nicht ausstehen konnte, war,
wenn sie sich an ihm festhielt und wie eine Krake von hinten ihre Arme um ihn
geschlungen hatte, Finger verschlungen vor seinem Bauch.
Wenn Klaus schon mal jemanden mitnahm, dann sagte er gleich, dass er das nicht
mochte. Wem er nichts erklären musste, war seine süße Beate-Uhse-Puppe. Deshalb
nahm er die auch am ehesten von allen mit. Obwohl er am liebsten immer noch
alleine Motorrad fuhr. Und das würde auch so bleiben, bis an sein Lebensende.
Das ließ Klaus immer wieder durchblicken.
Dass er damit aber Joschy zu einem reichen und deshalb angesehenen Oberbucher
machen würde, konnte natürlich keiner ahnen. Klaus kam wie verabredet gegen halb
neun um die Ecke gefahren. Joschy stand schon draußen vor der Tür, es waren
schon sechs Minuten nach halb neun, und er hatte heute Lust, in die Kiste zu
fahren. Dort war es am diesem Tag immer am schönsten. Es war viel los, aber
nicht so überfüllt von so vielen uninteressanten Leuten wie am Wochenende.
Mittwochs war Philosophentag. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Man freute
sich die ganze Woche darauf.
Als Klaus um die Ecke gefahren kam, sah Joschy, dass jemand mit einer ganz
komischen Farbe hinten drauf saß, ohne sich an Klaus’ Bauch festzuhalten. Sie
saß sogar etwas nach hinten gebeugt dort, so dass man Angst haben musste, dass
sie rücklings hinunterfallen würde. Sachte brachte Klaus die Maschine zum
Stehen. Joschy traute seinen Augen nicht. Er erkannte sie als besagte Puppe mit
Helm auf dem Kopf. „Nimm ihr den Helm ab“, sagte Klaus, nachdem er sein Visier
hochgeklappt hatte, „und klemm sie zwischen uns“. Joschy zögerte. Er wollte sie
erst kennen lernen.
„Willst du sie mir nicht vorstellen?“ fragte er ihn.
„Sie heißt Evelyn und kann verdammt gut blasen“, antwortete Klaus etwas genervt.
Er wollte zur Kiste. Merkte aber auch, dass Joschy sich noch sträubte. Also
drehte Klaus sich um, während die Maschine ins Wanken geriet, Joschy aber
geistesgegenwärtig nach dem Lenkrad griff und sie wieder ins Gleichgewicht
brachte, und zog ihr den Helm aus.
„Sie sieht etwas komisch aus“, sagte Joschy, der sich mit ihrem Mund nicht
gleich anfreunden konnte. Klaus stieß einen langen Seufzer aus.
„Evelyn, das ist Joschy, er hatte immer schon Probleme mit Frauen, also sei
artig. - Können wir jetzt fahren?“
„Is’ ja schon gut“, erwiderte Joschy, während er sich den Helm aufsetzte und
hinter Evelyn auf dem Motorrad Platz nahm.
In der Kiste stellten die drei sich zwei Meter hinter dem Tresen zwischen die
Stehtische. Evelyn mit Helm in ihrer Mitte. Jeder, der eintrat und an ihnen
vorbeigehen wollte, wunderte sich zunächst darüber, dass jemand den helm
anbehalten hatte. Dann erspähten sie allmählich einen rosaroten Körper, nackt.
Und als sie ihr Auge schamvoll darauf fallen ließen, wurde es immer größer. Sie
erkannten eine Plastikhaut. Und als Klaus das Visier des Helms hochzog und sie
den weit offen stehenden Mund wahrnahmen, wurden die einen wütend, die anderen
lachten laut auf und verneigten sich vor Evelyn, die ihnen natürlich vorgestellt
wurde.
Irgendwann an diesem Abend fragte zu später Stunde ein Fremder, der Evelyn
unbedingt näher kennen lernen wollte, ob er die Sau mal ausgeliehen haben
könnte. Der Kunde konnte kaum noch stehen und hatte nur noch Augen für die
Kleine.
„Aber nur für zwei Bier und zwei Cola“, sagte Klaus.
Nickend drehte der Fremde seinen Kopf zur Seite, wie Betrunkene es nun mal tun,
langsam und bedächtig, und bestellte die Getränke.
„Und zehn Euro“, schoss es aus Joschys Mund, der eigentlich gar nicht so war.
Deshalb sah Klaus ihn auch so überrascht an, genau so überrascht wie die vielen
Leute, die an diesem Abend an ihnen vorüber gegangen waren.
„Klar“, antwortete der Fremde und begann nach seinem Portemonnaie zu suchen. Er
legte zehn Euro auf den Tisch.
„Und wie wissen wir, dass du damit nicht abziehst“, fragte Klaus ihn. Da legte
der Fremde seine Geldbörse neben die zehn Euro auf den Tisch.
„Ich komm wieder, ehrlich“, stammelte er, „aber ohne Helm“, fügte er hinzu.
Klaus nahm Evelyn den Helm ab und sie ließen den Fremden mit ihrer Puppe gehen.
Nachdem die beiden ihre Getränke ausgetrunken hatten, sagte Klaus, dass der Typ
bestimmt abgehauen sei, weil in seinem Portemonnaie nur noch 22 Euro waren. Pass
und Bankkarte waren nicht darin. Da blickte Joschy auf. Nach einer kurzen
Denkpause bat er Klaus mitzukommen. Er führte ihn über den Parkplatz in eine
gegenüberliegende Hecke aus Koniferen. Von Pflanze zu Pflanze bewegte er sich,
bis er plötzlich aufschrie.
„Siehst du, da liegt er.“
Der Fremde war über Evelyn eingeschlafen. Die weiße Haut seines Hintern
blinzelte den beiden entgegen. Klaus sah Joschy fragend an. Das veranlasste ihn,
einen Ast der Konifere abzubrechen und leicht damit auf die weiße Haut zu
schlagen. Keine Reaktion. Etwas strenger. Immer noch keine Reaktion. Dann
härter. Erste Regung. Noch härter. Ein erstes Lebenszeichen. Ein Knattern in der
Stimme. Eine erste Regung.
„Eij, was soll das!“
„Eij, du Penner, steh auf, du bringst unsere Evelyn um. Sie erstickt. Hast du se
nicht mehr alle.“
Der Fremde regte und räkelte sich.
„Wollt’ ich nich’, sorry“, entschuldigte er sich, während er aufstand und sein
Gleichgewicht zu finden suchte.
„Warst du zufrieden?“ fragte Joschy.
„Toll!“, antwortete der Fremde.
„Okay, ich glaub dir. Hier hast du dein Portemonnaie zurück.“
Der Fremde wurde plötzlich munter. Er bedankte sich überschwänglich, indem er
Klaus um den Hals fiel, ihn dann losließ, um Joschy ebenso zu umarmen. Die
beiden nahmen es hin. Und während sie dem Fremden hinterher blickten, sagte
Joschy ganz trocken: „Der erste Freier!“
Klaus, der nicht hingehört hatte, sagte nur: „Und wer macht sie nun sauber?“
Einige Tage später rief Joschy seinen Freund Klaus an und fragte ihn, ob er ihm
Evelyn überlasse. Klaus war froh, die Puppe los zu werden. Er mochte sie nicht
mehr anfassen, seitdem dieser Typ sie hatte. Das war der Tag, an dem Joschy um
seine Chance wusste. Endlich würde er sich nicht mehr weiter zum Sklaven machen lassen
müssen. Endlich müsste er sich nicht mehr verstellen müssen. Einem Idioten, der sein
Chef wäre, nicht kratzfüßig entgegen treten und nur denken zu dürfen, dass er
ein Idiot sei. Wie herrlich!
Mit diesem Tag setzte er seine Idee in die Wirklichkeit um. Nun ließ er die
Puppen für sich tanzen. Bis hierher hatten sie ihn immer nur für sich tanzen
lassen. Und je mehr er gehorchte, um so mehr spielten sie mit ihm. Bis sie
zuletzt überhaupt keine Achtung mehr vor ihm hatten, und ihn nur noch mit Helm
herumlaufen ließen.
Und es dauerte nicht lange, da konnte er sich eine zweite Puppe anschaffen, und
eine dritte… eine vierte meldete sich fast von alleine. Die nämlich bekam er
auch geschenkt, wie die erste, Evelyn, die nach wie vor sein bestes Plastikpferd
im Stall war.
„Pfand: 50 Euro und gespült zurück!“ Das war sein Werbespruch. Und alles lief
wie am Schnürchen. Klar, hin und wieder kam die eine oder andere Puppe nicht
wieder. Aber das machte gar nichts. Er hatte ja die 50 Euro als Pfand. Was für
ihn aber am Wichtigsten war: Es war nie Evelyn, die wegblieb! Sie kam immer
wieder zu ihm zurück! Auch wenn sie mit der Zeit, was nicht ausblieb, älter und
verbrauchter wurde, so gab es Freier, die nur sie haben wollten. Mit der Zeit
nämlich hatte sie Ecken und Kratzer entwickelt, die den Jungs gut taten.
Verdammt gut. Sonst wäre sie nicht so gefragt gewesen. Und das Schönste war,
dass sie den Jüngeren einiges beibringen konnte.
Joschy wollte eigentlich gar nicht reich werden. Er wollte nur unabhängig sein. In regelmäßigem Abstand überwies er einen Haufen Kohle an wohltätige Einrichtungen. Er wusste ja davon, dass sich gewisse Geschäftleute schamlos an diese Vereine heranmachten, um so in die Presse zu kommen.
Joschy dagegen musste sich nicht schämen. Er war stolz auf sich. Das einzige, was er wollte, war, sich einen weißen Anzug zuzulegen, wo er doch die ganze Zeit schon weiße Schuhe trug. Der weiße Anzug war für ihn wie eine weißer Mercedes mit weißem Lenkrad. Doch anstatt sich einen solchen Wagen zu kaufen, fuhr er lieber mit seinem roten Mazda durch die Gegend, wobei er sich immer wahnsinnig freute, wenn er durch den Tüv kam.
Einmal aber war es beinahe vorbei mit seinem Geschäft. Ein Zuhälter aus dem
Nachbarort – und Joschy besteht darauf, ihn beim Namen zu nennen, den Ort:
Geilenkirchen, das ist wirklich so – hatte es auf seine Puppen abgesehen. Denn
mit der Zeit wurde die eine oder andere Puppe angegriffen, attackiert von
fremden Fingern mit fremden Nadeln. Und es wurde immer schwerer für Joschy, das
seinen Kunden klar zu machen. Sie blieben mit der Zeit weg. Joschy wusste aber,
dass sie niemals echte Haut vorziehen würden, weil die meisten Männer ja nur
ihrer Phantasie hinterher laufen, nicht aber dem Gefühl wahrer Liebe; darüber
lachen sie, wenn sie über ihre hörigen Puppen steigen und endlich mal nur sich
befriedigen dürfen, ohne sich nur auf ihr Stöhnen und Lügen konzentrieren zu
müssen, ihr großes Männlein macht sie zu einem kleinen Männlein, dankbar für die
Ewigkeit, dass sie drauf durften, dankbar auf allen Vieren bis ans Lebensende:
eine Möse braucht sich nur dicht zu machen, und schon gehen sie Wände hoch, die
Männer.
Joschy war der beste Psychologe der Umgebung. Und er hatte recht. Mit der Zeit
kamen alle seine Freier wieder zurück. Da halfen keine Nadelstiche. Nicht nur
Qualität setzt sich durch, sondern auch die Wahrheit. Sie eitert ja am meisten
aus den Wörtern, die man nicht einmal ausspricht. In denen man lebt. Überlebt.
Darauf man einschlafen darf. Ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen.
Irgendwann fuhr Joschy mit Evelyn in ein Geschäft, stellte sie ohne Helm als
seine Evelyn vor und bat den Verkäufer beim Rundgang durch sein Haus, mit
ausgestreckter Hand diese herrliche Harley Davidson an seinen besten Freund
Klaus zu verschicken: mit besten Grüßen von Joschy und Evelyn – nach 20 Jahren!
Der weiße Anzug war zwar etwas verwaschen, und Evelyn brauchte schon seit
einiger Zeit nicht mehr zu arbeiten. Die beiden waren aber immer noch verliebt
wie am ersten Tag, als Klaus sieben Minuten nach halb neun mit ihr um die Ecke
bog und Joschys Leben sich von da an absolut auf den Kopf gestellt hatte.
Und gespült zurück, hätte er am liebsten auf seinen Grabstein meißeln lassen.
Das aber war nicht möglich, weil Evelyn nicht mit ihm gemeinsam beerdigt werden
würde.
Kritiken und Anmerkungen zu dieser Geschichte sind vom Autor erwünscht.
Hierzu bietet sich das
Forum an, im
Bereich "Literatur"